Gesund und im Gleichgewicht
mit lebendigen Beziehungen

Das Entstehen von Gesundheit kann beschrieben werden als ein Spiel der Balance … als ein vom Menschen im Leben stets neu auszubalancierender Mittelpunkt. Eine Mitte, die jeden Tag aufs Neue gesucht werden will und immer in Bewegung ist, ein Leben lang.

Aber was ist die Mitte genau und wie lässt sich diese im Alltagsleben finden ? Die folgenden Gedanken möchten zeigen, dass es bei der eigenen, ruhigen Mitte wesentlich um den Aufbau von Beziehungen geht und darum, Sinn und Inhalte in diese Beziehungsverhältnisse zu bringen … z.B. in die Beziehungen zu den Mitmenschen, zur Kultur, zu den Naturerscheinungen und zu höheren Idealen unseres Menschseins.

Eine Yoga-Übung zur Entfaltung der Mitte

Wer schon mal eine Gleichgewichtsübung auf einem Bein ausgeführt hat – z.B. die Yogaübung, die Baum genannt wird – der hat eine Erfahrung im Sinne eines beständigen Ausbalancierens und Kreisens um einen Mittelpunkt herum gemacht. Das ist eine eindrückliche, körperliche Erfahrung und sie hat zugleich eine innere, seelische Bedeutung, auf die später noch eingegangen wird. Erstmal ein praktischer Blick auf diese Yogaübung …

In dieser Gleichgewichtsposition steht der Übende in einer vertikalen Line. Diese Linie ist die sichtbare Ausrichtung zwischen oben (offener Raum) und unten (Erdboden). Die Arme hingegen spannen eine Horizontale auf und die Hände tasten sich dabei seitlich in den Raum.

Im Verlauf der Übung lernt man, die vertikale Standposition in eine feine, innere Aufrichtung zu führen, also weder in der Hüfte noch im Rücken einzuknicken, stattdessen in der vertikalen Achse sanft zu wachsen. Eine ruhige, achtsame Streckung durchströmt die gesamte Körperlinie. Sie erinnert an das Wachsen einer Pflanze in Richtung des Sonnenlichtes und der Erde.

In der Endstellung der Übung führt der Übende die Hände aus der horizontalen Linie ruhig vor der Herzregion zusammen. Er nimmt – wach im Raum stehend – zweifach eine Mitte ein, eine Mitte zwischen einem oberen und einem unteren sowie zwischen einem rechten und einem linken Pol.

Diese Mitte im Gleichgewicht ist spürbar keine statische, stillstehende Mitte. Mit allen Sinnen aktiv stellt der Übende das Gleichgewicht immer wieder neu her. Zwischen ihm selbst und der Umgebung besteht eine lebendige Beziehung und er ist permanent im Spiel der Balance. Das Gleichgewicht wird vom Übenden in jedem Moment neu und selbstständig hergestellt. Beides führt zu einem zentrierten Gefühl der eigenen Persönlichkeit, zu einem Gefühl des Ich-Selbst, wie es im Yoga heißt, zu einer Wahrnehmung der eigenen Selbst-Wirksamkeit.

Was hat es nun dabei mit der vertikalen und der horizontalen Ausrichtung in dieser Übung auf sich? Wie lässt sich das seelisch tiefer deuten und was hat das mit dem Thema Beziehung zu tun ?

Vor der Erläuterung dieses inneren Bildes einer Mitte zwischen einem oberen und unteren sowie einem linken und rechten Pol ein kurzer Blick zu der Wortbedeutung von „Yoga“.

Yoga in ursprünglicher und tieferer Bedeutung

Yoga ist ein Wort aus der alten, indischen Sanskrit-Sprache. Die indische Kultur war vor vielen tausend Jahren die erste Hochkultur in der Menschheitsgeschichte. yoga ist dort ein Verb, ein Wort, welches die Tätigkeit „anjochen“ oder „verbinden“ ausdrückt. Es beschreibt in ursprünglicher, philosophischer Tiefe die innere, heute meist verborgene Sehnsucht des Menschen, sich mit der gesamten Schöpfung in einer tiefen Verbindung und letztlich in einer Einheit zu erleben. 1)

Während wohl damals im alten Indien eine Sehnsucht zu einer Rückverbindung rein zum geistigen Ursprung (Sanskrit: brahman) das Ziel war, beschreiben geistige Lehrer der neueren Zeit, dass evolutionsbedingt, der heutige Mensch zugleich eine tiefere Beziehung und Nähe zur Erde, zur Natur, zu seiner Kultur und zu seinen Mitmenschen sucht.

Mitte, Balance und Gesundheit des Menschen durch aktive Beziehungen

Die vertikale Achse in diesem Bild kennzeichnet die menschliche Ausrichtung und Suche nach einer Beziehung zu universalen Werten und geistigen Idealen sowie – aus diesen motiviert – die Nähe zur Erde und Natur. Die horizontale Achse soll die Beziehungen zu den gesellschaftlichen Lebensbereichen ausdrücken. In den weltlichen Beziehungsverhältnissen leben naturgemäß die Gegensätze von Sympathie und Antipathie, von dem, was man mag und was man nicht mag. In diesem Spannungsfeld sind wir beständig im Alltagsgeschehen eingebettet.

Die lebendige und harmonische Mitte, oder die Balance, die man Gesundheit nennen kann, ergibt sich umso besser, je aktiver der Mensch Beziehungsverhältnisse in seinem Lebensumfeld sucht, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie harmonisch gestaltet. In diesem Bild vom Menschen in der Mitte und seinen lebendigen Beziehungen in einer Vertikalen und einer Horizontalen drückt sich aus dem Verständnis des Yogaweges heraus für mich die Entstehung von Harmonie, Gleichgewicht und somit von Gesundheit aus. Es ist ein ganzheitliches Bild, welches eine Verwandtschaft zum von Aaron Antonowsky geprägtem Begriff der Salutogenese besitzt, … ein Bild für die dynamische Entwicklung und Entstehung von Gesundheit im Menschen.

Die Bedeutung eines Inhaltes für das Finden des Gleichgewichts

Wie man bei der Ausführung einer Gleichgewichtsübung sogleich merkt, ist die Harmonie eines ruhigen Standes nie fertig, nie endgültig erreicht, man wird immer schwanken. Es ist ein ständiger Prozess, der immer wieder neu aus wachsamer Beobachtung heraus hergestellt werden will. So wollen gesunde Beziehungen auch immer wieder neu wahrgenommen, neu reflektiert und neu gestaltet werden.

In dem hier dargestellten Yoga-Übungsansatz kommt hinzu, dass der Übende lernt, mit der praktischen Ausführung einen ausgewählten, passenden ‚Inhalt‘ zu denken, zu fühlen und in der Bewegung des Körpers ausdrücken zu lernen. Dieser ‚Inhalt‘ hat idealerweise den Bezug zu einer universalen Weisheit, die in der Menschheit angelegt ist und er belebt den Mitten-Herz-Bereich mit einer Form von Wärme, Ruhe und Innerlichkeit.

Bei der oben gezeigten Yoga-Asana vom Baum hat der Übende bei der Ausführung den Gedanken eines Gleichgewichtes im aufgerichteten Stand, welches er selbstaktiv und permanent im Wachsein zur Außenwelt herstellt in der Vorstellung. Dieser Gedanke, der einer geistigen Gesetzmäßigkeit entspricht, bewirkt in der Folge und mit einiger Übung Ruhe, Gegenwärtigkeit und jene besondere Innerlichkeit. 2)

Da es sich bei diesem Gedanken um eine universale Gesetzmäßigkeit im Menschen handelt, die in der Yogalehre auch unter der Entwicklung des sogenannten Herz-Zentrums (anahata-cakra) bekannt ist, kann diese Kraft, Ordnung und Ausstrahlung in jedem Lebensbereich, auch außerhalb einer Yoga-Übung, zum Ausdruck kommen.

Ein Beispiel aus der Praxis – Die Übertragung einer ruhigen Mitte auf den Alltag

Eine agile Frau, Mitte 50, bemerkte eine zunehmende Frustration und Anstrengung in ihrem Gesundheitsberuf. Neben einer reduzierten körperlichen Kondition stellten sich ein erhöhter Blutdruck sowie Beklemmungen beim Atmen ein. Eine Reha-Maßnahme ermöglichte, Abstand zu finden sowie die Lebenssituation aus der Ruhe heraus zu reflektieren. Zudem wurde der Blutdruck medikamentös eingestellt.

In der Yoga-Einzelstunde besprechen wir ihre Situation. Tages- und Wochenablauf hat die Teilnehmerin schon begonnen, neu zu strukturieren. Sie hat nun einen bewussteren Rhythmus von aktiven Arbeitsphasen und besinnlichen, regenerativen Zeiten eingerichtet. Zusammen greifen wir das Bild vom Menschen, seiner Herz-Mitte und den Beziehungs-Polen auf und finden noch weitere ganzheitliche Ansatzpunkte, ihren geschwächten Zustand zu stärken.

Ein für sie wertvoller Lern- und weiterer Genesungsschritt in den folgenden Yoga-Stunden war, dass sie in den Gleichgewichtsübungen nicht mehr gegen das Wackeln angekämpft hat. Stattdessen hat sie gelernt, das Schwanken anzunehmen und es beobachten zu lernen. Die Aufmerksamkeit auf den umliegenden Raum gezielt zu erweitern und nicht am Körper und seiner Kontrolle haften zu bleiben, war dann ein nächster spürbarer Erfolg. Dieser brachte nochmals mehr Ruhe und Gelassenheit ins Nervensystem und in die körperliche Ausführung.

Wunderbar eindrücklich war für die Teilnehmerin, dass sie die Lernschritte mit den Yoga-Positionen auch im Arbeitsleben erproben konnte. Nicht, dass sie vor ihren Kollegen eine Gleichgewichtsübung praktizierte. Nein, das nicht, jedoch konnte sie beispielsweise bei einer Dienstbesprechung, in der sie sonst sehr heftig argumentierte, verschiedene Standpunkte der Team-Mitglieder stehen lassen und sich selbst zunehmend in die Rolle des besonnenen Beobachters versetzen. Aus der Ruhe heraus konnte sie die Sache, um die es ging, konkreter fokussieren und die Kommunikation zu den Kollegen einfühlsamer steuern. Ihre angespannte Herz-, Kreislauf-Konstitution konnte sich somit weiter entlasten und stärken.

Zusammenfassung

Es ist ein inneres Naturgesetz, dass der Mensch leichter ins Gleichgewicht findet, wenn er mit seinen Sinnen und mit seinem Denken, also mit seinen Bewusstseinskräften, in einer eigenen Führung und Ausrichtung zum Leben steht. Wenn diese Ausrichtung – und das ist bemerkenswert – mit klaren Gedanken und differenziert nach außen ins Umfeld zu einer Person oder zu einem Objekt geht, erzeugt diese nach innen, im Herzbereich, eine wache Ruhe. Diese wiederum kann mit geduldiger Übung als harmonische Ausstrahlung das Umfeld erfreuen und gewissermaßen durchwärmend wirken, also zwischen Menschen harmonische Beziehungen fördern.

Lernt der Mensch zudem Inhalte in seine Beziehungen zu führen (oberer Pol) und damit aktiv zu handeln (unterer Pol), also mit einem Ideal sein Tun zu bereichern, ein Ideal, das charakterstark ist oder das zu den universalen Weisheiten der Menschheitsgeschichte zählt, dann entwickelt sich seine Persönlichkeit hin zu einer individuellen Stärke. Eine Stärke, die zum Wohle der Mitmenschen beitragen kann … und zugleich zur eigenen Gesundheit.

Die Yoga-Asana ‚Halbmond‘, siehe Foto, ist mit dem Gedanken ausgeführt, eine Beziehung zu einer höheren Wirklichkeit (Rückwärts-Streckung) zu suchen sowie gleichzeitig eine Bewegung und Beziehung zur Erde hin zu erbauen (Kraftvoller Stand in Richtung Boden ziehend).

Mahatma Gandhi hatte zum Beispiel seinerzeit das Ideal der Gewaltlosigkeit (Sanskrit: ahimsa) kulturübergreifend durchdacht und tief verinnerlicht. So war es ihm möglich, das Verhalten der englischen Besatzungsmacht in Indien scharf zu verurteilen, sogar dagegen anzukämpfen, jedoch zu den Engländern als Menschen, eine empfindungsvolle, sogar wertschätzende Beziehung zu bewahren. Vermutlich war das das Geheimnis, dass diese schließlich freiwillig den indischen Kontinent verlassen haben. 3)

Für uns Menschen ist es möglich, eine Balance und besonnene Herz-Mitte zu finden, die harmonisierend wirkt, … harmonisierend auf uns selbst, auf andere und aufs gesamte Umfeld. Aus der Sicht eines ganzheitlichen Menschenbildes, wie man es beispielsweise im Yoga findet, ist es sogar ein Naturgesetz.

Stefan Jammer, März 2022

Artikel zum Download


1) Der Weg des Yoga – Ein Handbuch für Übende und Lehrende
Berufsverband Deutscher Yogalehrer, 2007, Verlag Via Nova, S. 3

2) Die Seelendimension des Yoga – Praktische Grundlagen zu einem spirituellen Übungsweg, Heinz Grill, 2018, Lammers-Koll-Verlag, S. 126

3) M.K. Gandhi – Eine Autobiographie oder die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit, M.K. Gandhi, 2013, Aquamarin Verlag